Die Widerstandsfähigkeit als Beweis der Menschlichkeit

Was uns die indigenen Völker über die Widerstandsfähigkeit lehren: Der Fall Araribóia. Von Carlos Travassos, indigenem Aktivisten. Previously posted here

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Author: Carlos Travassos

Das Jahr 2020 fing an mit starkem Regen im Indigenengebiet Araribóia, im Amazonas des Bundesstaats Maranhão, mitten in der Stille der Trauer nach dem Tod von Paulo Paulino Guajajara, Hüter des Waldes, der in einem Hinterhalt von Eindringlingen in sein Territorium getötet wurde. Auch während der Strenge des amazonischen Winters, zwischen den Donnereinschlägen von Tupã (Vater des Universums), verletzte noch einmal die Motorsäge die Stille und die Trauer.

Mitten im Indigenengebiet, entlang des Flusses Cerozal, bestehen Dörfer der Guajajara zusammen mit Gruppen der isolierten Indianer aus der Ethnie der Awá Guajá. Die Menschen wohnen in einer übriggebliebenen Urwaldgegend, wo die Bäume Hunderte Jahre alt sind und wo Arten von freilebenden Tieren und Pflanzen leben, die von der Auslöschung bedroht sind. Die Awá Guajá selber werden von internationalen Organisationen wie Survival International als eine derjenigen ethnischen Gruppen betrachtet, die weltweit am meisten gefährdet sind.

Der Urwald im Indigenengebiet hat wenig Wert für diejenige Leute, die sich dort daranmachen wollen, auf Raubsuche zu gehen. Aber viel Wert hat er für diejenige, die ihn kaufen und verkaufen. Und der Wert ist unschätzbar für die Awá und für die Hüter des Waldes. In Lagoa Comprida trägt das Summen der Motorsäge das Trauma der Morde infolge des Widerstands gegen die Entwaldung, der von der Kultur des Tentehar getragen wird, der Selbstbezeichnung des Volkes der Guajajara sowie des Volkes der Tembé.

Die nahe Präsenz der Motorsägen aufzudecken ist eine schwierige Aufgabe: unzugängliche Straßen und nicht funktionierende Internetanschlüsse. Um eine Anzeige einzureichen, muss man große bürokratische Hürden überwinden: Es müssen Fotos eingereicht werden, sowie geografische Koordinaten, begründete Informationen und alles weitere. Auf die Anzeige kommt allerdings nicht eine Reaktion vom Staat, sondern von den Hütern des Waldes, deren Strategie daraus besteht, die Brücke abzureißen, die den Fluss Buriticupu überquert, der diesen Endpunkt des Territoriums mit dem Mittelpunkt des Waldes der Awá Guajá verbindet. Aber nach diesen Aktionen vom Februar 2020 wendete sich das ganze soziale Netzwerk der umliegenden Bevölkerung gegen die Indigene.

Der Preis für den Kampf für den Urwald geht mit Todesangst und Beschneidung der Freiheit einher. Der Zweifel, ob sich all dies lohnt, quält jede Führungsperson, die für ihr Territorium kämpft. Der Sohn eines Waldhüters wurde verfolgt, als er zum Einkaufen den Markt eines benachbarten Dorfs besuchte: umzingelt, erniedrigt und mit Schusswaffen bedroht. Nach den Bedrohungen mit einer übermittelten Nachricht bauten die Holzfäller eine neue Brücke an der Stelle der vorigen und reisten in großer Zahl mit mehreren Lastwagen an. Nachdem diese das Indigenengebiet verlassen hatten, zerstörten die Waldhüter noch einmal die Brücke, die dann in den nachfolgenden Wochen wiederaufgebaut wurde. Die Waldhüter zerstörten sie noch ein weiteres Mal, aber diesmal waren die Lastwagen im Territorium geblieben. Das System des organisierten Verbrechens der Holzausbeutung besitzt eine Logistik, die sehr gut funktioniert, und die Lastwagen wurden schließlich durch Traktoren weggeschleppt, die aus dem Dorf kamen.

Im Laufe von Februar und März, vom Kommen und Gehen mit Holzraub, Zerstörung und Wiederaufbau der Brücken, unternahmen die isolierten Awá Guajá, deren am besten konserviertes Gebiet ihres Territoriums schon unter der Zerstörung litt, etwas Außergewöhnliches: Sie blockierten eine der Straßen, die von den Holzfällern aufgemacht worden waren, mittels Holzstücke und angebundener Lianen. Die Holzfäller mussten einen Traktor dorthin holen, um die Straße freizuräumen und den Lastwagen passieren zu lassen. Die Nachricht war von den Isolierten am Ende der Holzfällerstraße übermittelt worden, 28 Kilometer von ihrem Anfang entfernt und sechs Kilometer vom Dorf Lagoa Comprida, wo man hören konnte, wie die Motorsäge die Bäume niederriss.

Im Monat April, als die Pandemie sich völlig ausbreitete und sowohl die Dörfer der Guajajara als auch die indigene Bevölkerung von ganz Brasilien erreichte, wurden die Awá Guajá von den Indigenen aus Lagoa Comprida in einem Ort in der Nähe gesehen. Auch nachdem sie erwischt worden waren, zogen die Awá nicht von dem Ort zurück, sondern blieben mehrere Wochen dort campiert. Die Funai (Nationale Behörde für die Indianer) wurde gebeten, etwas zu unternehmen, hat aber den Ort nicht aufgesucht. Am 16. Mai gingen aus Neugier einige Guajajara fort, um die Isolierten auszukundschaften. Beim Betreten ihres Zeltlagers wurde einer der Guajajara von einem Pfeil getroffen. Die Spitze des Awá-Pfeils, mit einer Länge von 30 Centimeter, verursachte eine Schlüsselbeinfraktur beim Getroffenen, der aus dem Ort floh und überlebte. Die Guajajara reagierten mit Verständnis aber vor allem mit Besorgnis. Die von den Guajajara gestellten Fragen sind: Warum haben die Awá ihr Lager in der Nähe unseres Wohnorts aufgestellt? Warum reagieren die mit Gewalt, wenn sich jemand ihnen nähert? Kann es sein, dass es Streit zwischen ihnen und den Holzfällern gab?

Im schicksalhaften Jahr 2020 wurde die Verwunderung über diese Verhaltensänderung auch von dem “Sertanista” (traditionellem Kenner und Forscher des Urwaldes und seiner Bewohner) gespürt, der für die Funai arbeitete und der seit Jahrzehnten verantwortlich gewesen war für den Schutz von Gruppen isoliert lebender Indianer des Sprachenstammes Tupí, im Nordwesten des Bundesstaates Rondônia, im Indigenengebiet Uru-eu-wau-wau. Die Isolierten, die immer die Mitte ihres Territoriums bewohnt hatten, fingen an, die Grenzen ihres Territoriums aufzusuchen und, nachdem sie diese überquert hatten, betraten hin und wieder die Besitztümer der an ihren Territorien angrenzenden Ansiedler. Am neunten September, als er auf Bitte der Anwohner einer dieser Geschehnisse nachging, wurde Rieli Franciscato überrascht und ging, von einem Pfeil tödlich im Herzen getroffen, zu Boden. Der Sertanista war einer der größten Experten auf dem Feld der zeitgenössischen Indigenenforschung, und mit ihm verstorben ist ein Teil einer Funai, die sich für den Schutz der isolierten Völker einsetzt.

Der damalige Umweltminister hat konsequent geholfen, die Viehherden in die Wälder des brasilianischen Amazonas sowie in die Territorien der isoliert lebenden Indianer eindringen zu lassen. Sogar in Bundesstaaten wie Maranhão, wo die Regierung eine kritische Haltung gegenüber der Umweltpolitik der Bundesregierung einnimmt, wurde der Geschäftsbereich Umweltschutz an politische Koalitionen im Wahljahr abgegeben, was die Umweltaufsicht ganz klar geschwächt hat. Beim Ibama (Brasilianisches Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen) wurde die ehemalige Aufsicht ausgetauscht, was ebenfalls in anderen Regionen des Amazonas passierte. Auch bei der Funai wurden die Ämter von Leuten übernommen, die in den üblichen Personalbestand nicht passten und keine Erfahrung in dem Bereich hatten und folglich eine ineffiziente und unverantwortliche Arbeitsweise zeigten. In der brasilianischen Regierung also ist dieses die tatsächliche Lage der Umweltpolitik sowie des Schutzes der indigenen Völker und ihrer Territorien.

Bis Oktober 2020 ist ein Jahr seit dem Mord an Paulo Paulino Guajajara verstrichen, und es ist noch niemand in Haft genommen worden. In Brasilien ist die Straflosigkeit die Regel für die Mörder von Menschenrechts- und Umweltschützern.

Das Eindringen in die Indigenenterritorien u.a. durch Holzfäller und Goldgräber verschärft erheblich die Ausbreitung von Covid-19 unter den Völkern dort. Unter diesen Völkern sind diejenigen, die erst seit kurzem Kontakt haben, sowie die isolierten Gruppen am meisten verwundbar. Der STF (Oberster Bundesgerichtshof) eröffnete die Klage wegen Verstoßes gegen ein grundlegendes Gebot, Nr. 709, nachdem die brasilianische Bundesregierung durch die APIB (Artikulation der Indigenen Völker Brasiliens) und weitere Behörden verklagt wurde – wegen Untätigkeit beim Schutz der Gesundheit und der Territorien der isolierten und neu kontaktierten indigenen Bevölkerungsgruppen sowie der weiteren indigenen Bevölkerungsgruppen und wegen der dadurch verursachten Ausbreitung der Pandemie auf diese Bevölkerungsgruppen. Trotz diesem exemplarischen Vorgehen des Obersten Gerichtshofes erreichte die zweite Welle der Pandemie noch einmal die indigenen Territorien und es wurde keine nachdrückliche Gerichtsentscheidung getroffen, also zeigt die Bundesregierung eine völlige Missachtung der Äußerungen des Ministers Barroso.

Mit jedem neuen Jahrzehnt liefert die widerständige Anwesenheit der isolierten indigenen Völker neue und unerwartete Konzepte von dem eigentlichen Sinn der Widerstandsfähigkeit. Wenn, auf der einen Seite, die von Ricardo Salles dirigierten Viehherden uns jegliche optimistische Prognose absprechen in Bezug auf die Risiken der Auslöschung, denen die indigenen Völker ausgesetzt sind – denn schließlich wie viele isolierte Gruppen sind schon der Ausrottung in der neueren Vergangenheit unserer Geschichte anheimgefallen – wegen Krankheiten, Gewalt und widerrechtlicher Aneignung ihrer Territorien? –, könnte es andererseits sein, dass das Jahr 2021 auch ein Jahr sein wird, in dem sämtliche Völker des Planeten mit Besorgnis auf die Verwüstung des Amazonas schauen und unter den indigenen Völkern die Hoffnung erblicken lassen, dass es eine Zukunft nicht nur für sie gibt, sondern für uns alle.

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