Die regenerative Kraft von Geschichten

Geschichten machen einen Großteil der Identität amazonischer Gemeinschaften aus, weshalb ihre Erzählkultur ein entscheidender Akteur gegen die Zerstörung des Regenwaldes ist. Lerne die Geschichten der Gemeinschaften kennen, mit denen wir bisher gearbeitet haben, und deren Potential, den Regenwald zu regenerieren!

Autorin: Sina von der Heyde
Read in English. Leia em Português.

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“Geschichten sind wichtig. Viele Geschichten sind wichtig. Geschichten wurden genutzt, um zu enteignen und zu verleumden. Aber Geschichten können auch zum Empowern und zum Humanisieren genutzt werden.
Geschichten können die Würde eines Volkes brechen. Aber Geschichten können diese gebrochene Würde auch wiederherstellen.”
― Chimamanda Adichie Ngozi

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Geschichten sind wichtig, da sie ein großes Potential haben, Wandel zu bringen. Auf der ganzen Welt bilden Geschichten einen wichtigen Bestandteil der menschlichen Realität. Diese besondere, universelle Tradition des Geschichtenerzählens verbindet uns als Menschen nicht nur miteinander über Grenzen hinaus, sondern auch mit unseren Vorfahren über Jahrhunderte hinweg.
Auch im Amazonasgebiet spielen Geschichten eine entscheidende Rolle. Als Teil der amazonischen Identität bilden sie eine wertvolle und diverse Erzählkultur, in der häufig “encantados”, sogenannte “Zauberwesen”, vorkommen, welche oft mit dem Schutz und der Harmonie des Regenwaldes in Verbindung stehen.

Diese Kultur ist durch die fortschreitende Entwaldung besonders gefährdet. Doch indem Geschichten verloren gehen, verliert der Wald einen wesentlichen Teil seines Schutzes. Denn dieser Verlust findet nicht nur metaphorisch statt! Die Geschichten sind eng mit der Kultur der amazonischen Gemeinschaften verbunden, und die Zerstörung dieser Kultur spiegelt sich unmittelbar in dem Verlust des Regenwaldes wieder!
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Unsere Storytelling Workshops

Unter Anerkennung der Bedeutung lokaler Geschichten hat Meli eine Methodik für die Storytelling Workshops entwickelt, die das Ziel hat, den Kontext, die Herausforderungen und die Wünsche der amazonischen Gemeinschaften zu verstehen. Den Kern unserer Storytelling Workshops bildet Cynthia, eine warmherzige, empatische Pädagogin und Kinderbuch-Autorin, die zwischen den amazonischen Flüssen Negro und Solimões geboren und aufgewachsen ist. Mit ihrem Fachwissen organisiert und koordiniert sie Melis Storytelling Workshops, wobei sie sich auf die Erzählkultur der amazonischen Gemeinschaften, Mitglieder von Meli, konzentriert.

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Während die Workshops den Teilnehmer:innen und ihren Geschichten einen Raum bieten, fokussiert sich Cynthia auf die Fähigkeit, einander ganz genau zuzuhören. Wie Cynthia sagt: “Lasst uns dem zuhören, was die andere Person sagt, lasst uns dies in unseren Gedanken weiterentwickeln und reifen lassen, damit wir es zusammen mit unseren eigenen Gedanken ausdrücken und neues Wissen schaffen können”. Zudem fangen die Teilnehmer:innen an, sich als Teil ihrer Heimat zu identifizieren und die Schönheit eben dieser wahrzunehmen, damit sie und ihr Land aufblühen können.

“Lasst uns dem zuhören, was die andere Person sagt, lasst uns dies in unseren Gedanken weiterentwickeln und reifen lassen, damit wir es zusammen mit unseren eigenen Gedanken ausdrücken und neues Wissen schaffen können.”

Dieser Rahmen eröffnet einen sicheren Raum für die Teilnehmer:innen, der ihnen erlaubt, ihre ganz eigene, persönliche Geschichte zu teilen, sich an die Geschichten ihrer Vorfahren zu erinnern und sich gegenseitig auf neuem Wege kennenzulernen. Marcos, einer der Teilnehmer des Storytelling Workshops, den Cynthia beim IALA Amazônico gehalten hat, erzählte uns, wie sehr er die Geschichten der anderen Leute genossen hat und, dass er sich an die Geschichten erinnert hat, die ihm seine Großmutter einst erzählte.
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Wandel durch Storytelling und dessen kulturelle Bedeutung

Doch Geschichten sind nicht nur ein Teil unserer Identität, sie haben auch eine transformative Kraft. Während des Workshops in der Kleinbauer:innengemeinschaft Frei Henri konnte Cynthia die Kraft der Frauen der Gemeinschaft und ihre Führungsqualitäten erleben. Denn die hart arbeitenden, inspirierenden Frauen führen die Regeneration in zuvor degradierten Gebieten an. Heute kultivieren sie diese trotz der aus kolonialen Strukturen resultierenden Missachtung ihrer Menschenrechte, die sie in den letzten Jahrzehnten erdulden mussten. Indem sie ihre eigenen Geschichten erzählen, können die Frauen von Frei Henri stolz auf ihre Wurzeln sein und diese ehren — ja, ihre Geschichten können Kraft geben, Veränderung und Wandel mit sich bringen!

Cynthia und die Frauen aus der Kleinbauer:innengemeinschaft Frei Henri nach dem Workshop, von L’occitane Foundation und L’Occitane Germany gefördert (Foto von Rayda Lima)

Geschichten können auch starke Bindungen zwischen Menschen zum Vorschein bringen. Bei der Quilombola-Gemeinschaft von Bracinho do Icatu, wo Cynthia den ersten Storytelling Workshop von Meli leitete, hat sie erlebt, wie diese Frauen eine starke und einzigartige Einheit bilden. Sie teilten die Geschichten ihrer Kämpfe, und einzig und allein dieses Ausdrücken ihrer Gedanken und ihres Schmerzes kann ihnen helfen, ihre Kraft wiederzufinden und sich auf ihre gemeinsamen, wertvollen Wurzeln zu besinnen.

Quilombola-Frauen bei einer Feier während des Workshops in Bracinho do Icatu, von ECAM gefördert (Foto von Rayda Lima)

Für die Gaviões, eine Indigenengemeinschaft, die unweit von der Großstadt Marabá lebt und die am letzten Storytelling Workshop von Meli teilnahm, bedeutet das Erzählen von Geschichten ihre Kultur zu erhalten. “Alles fing mit der Sonne und dem Mond an, erst danach kam die ganze Menschheit” — der indigene Geschichtenerzähler Rikpàrti teilte einen Teil der Erschaffung der Welt laut der Kultur der Gavião mit uns. Um uns daran zu erinnern, wie wichtig das Erzählen von Geschichten für die Erhaltung einer Kultur ist, sagt uns Tuxati: “Als ich Kind war, holte mein Vater Honig, um ‘Tom’ zu erzeugen” und “die Frauen [benutzten den Honig, um] ein Arzneimittel herzustellen, das sie dann auf den Nacken der Kinder anwenden würden”. Aber wertvolle Geschichten über diese Techniken und viele mehr gehen langsam verloren, da die Kultur der Gemeinschaft zunehmend gefährdet ist.

Tatyane, eine Kleinbäuerin von Frei Henri, betonte, wie wir anhand von Geschichten über die Bedeutung der Natur für uns Menschen lernen können: “das Wissen über Lebenserfahrungen von der Natur, unsere eigenen und die von anderen Leuten helfen uns zu erkennen, wie sehr wir sie [die Natur] für alles brauchen: Um zu leben, zu essen, zu atmen, Medikamente oder Therapie, die Natur ist für unser Überleben unentbehrlich”. Ja, das Teilen unserer Lebensgeschichten kann einen Wandel in Bezug auf unser Verhältnis zur Natur lostreten, uns erkennen lassen, dass sie unsere Heimat ist, und dass wir ohne sie wenig erreichen können. Aber, wie wir alle wissen, ist der Amazonas Regenwald ernsthaft gefährdet — und vielleicht können all diese Geschichten ein Schlüssel sein, um dieses Problem zu lösen.

“Erkennen, wie sehr wir sie [die Natur] für alles brauchen: Um zu leben, zu essen, zu atmen, Medikamente oder Therapie, die Natur ist für unser Überleben unentbehrlich”
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Den Amazonas Regenwald durch Storytelling schützen

Cynthia erzählte uns von einer weiteren Dimension des amazonischen Geschichtenerzählens — von einer Dimension, die von einem intakten Regenwald abhängt und die daher das Potential innehat, dieses kostbare Ökosystem vor der ganzen Zerstörung zu schützen.

Während der Workshops teilten die amazonischen Gemeinschaften alte Geschichten von Zauberwesen, wie zum Beispiel von einem besonderen Vogel, der für die Quilombola-Frauen den Beschützer des Regenwaldes symbolisiert, oder von einer großen Schlange — der “Boiuna”. Es gibt verschiedene Versionen der Geschichten über diese Schlage, wie Cynthia erläutert, aber sie wird als Metapher für eine schützende Wächterin wahrgenommen, die Menschen mit bösen Absichten davon abhält, in das Gebiet einzudringen.

Ein Blick in den Amazonas Regenwald, unweit von Bracinho do Icatu (Foto von Workshop-Teilnehmerin Tainá Viana)

All die Geschichten von diesen verzauberten Wesen sind aber von einem intakten Regenwald abhängig, wie Cynthia betont — “die Zauberwesen brauchen den Wald und die Flüsse”. Sollten der Regenwald und seine Tiere sterben, dann wird diese wertvolle Erzählkultur mit ihnen sterben. Für die Menschen, die einen anderen Hintergrund haben, so Cynthia, können diese Geschichten einfache Geschichten bleiben, aber für die Menschen, die dort leben, bilden sie einen wesentlichen Bestandteil der eigenen Identität. Daher hat die Erhaltung der amazonischen Pflanzen- und Tierwelt einen besonderen Wert für sie.

“Die Zauberwesen brauchen den Wald und die Flüsse”

Diese Legenden und die Geschichten der Gemeinschaften über ihre ganz eigene Realität haben ein großes Potential für die Regeneration und die Wiederherstellung der Menschlichkeit im Amazonas Regenwald. Sie können also einen vitalen Bestandteil des Kampfes gegen die Umweltzerstörung darstellen, indem sie der Welt die artenreiche Schönheit ihrer Region zeigen und dabei betonen, warum es wichtig ist, den Amazonas Regenwald zu schützen.

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